WIR SIND GLARUS

Europa ist zwar seit Jahrzehnten eine beliebte Destination für internationale Einwanderung, die Bevölkerungsentwicklung auf unteren Staatsebenen fällt jedoch extrem unterschiedlich aus. Bei einer Adjustierung der Perspektive auf das Subnationale zeigen sich gar widersprüchliche Trends: Viele Menschen, die sich in wirtschaftlich dynamischen Städten ansiedeln («Oasen»), entfliehen wirtschaftlich angeschlagenen, peripheren Regionen («Wüsten»). So ist auch die Anzahl Einwohner*innen der gesamten Schweiz zwischen 1850 und 2022 von 2,4 auf 8,8 Millionen angestiegen – jene das Kantons Glarus in der gleichen Periode allerdings lediglich von gut 30’000 auf 41’000. Hinter diesem vergleichsweise inexistenten Bevölkerungswachstum versteckt sich das Phänomen, dass Regionen wie der Kanton Glarus gleichzeitig eine beträchtliche Abwanderung erleben.

Globale und nationale Wirtschaftskrisen verschärfen diesen Trend und setzen einen Teufelskreis aus demografischem Rückgang, wirtschaftlichem Abschwung, abnehmender Attraktivität, steigenden Staatsausgaben und einer höheren Steuerlast in Gang. Komplexe Wechselwirkungen zwischen nationalen und regionalen Bevölkerungsbewegungen, territorialen Ungleichheiten, Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie sowie politische Entscheidungen auf mehreren Ebenen prägen dabei den öffentlichen Diskurs.


So peripher und doch so nah

In der «9 Millionen Schweiz» ist das Wachstum sehr ungleich verteilt. Obwohl die Wirtschaft brummt und allerorts Fachkräfte fehlen, nehmen die Unterschiede und somit auch die Ausgleichszahlungen zwischen «reichen» und «armen» Kantonen zu: Glarus ist «Nehmerkanton» und erhält im Jahr 2023 gut 65 Millionen Schweizer Franken, also knapp 1600 Franken pro Einwohner*in.

Der Kanton Glarus im Speziellen hat heute praktisch gleich viele Einwohner*innen wie 1850 (Abbildung 1). Dies entspricht zwar immer noch einer Zunahme von 36 Prozent, ist aber nichts im Vergleich mit jenen von Waadt (plus 312 Prozent), Zürich (plus 524 Prozent) oder Genf (plus 494 Prozent). Die gesamte Schweiz hat seit 1850 eine Bevölkerungszunahme von stolzen 265 Prozent zu verzeichnen. Auch die Vorhersagen des Bundesamtes für Statistik bis 2050 verheissen mehr vom bereits Bekannten: Dann nämlich soll der Kanton Glarus im mittleren «Referenzszenario» gut 42’000 Einwohner*innen aufweisen (plus 4 Prozent gegenüber heute), im «tiefen» Szenario gar weniger als heute, nämlich 38’000 (minus 7 Prozent gegenüber heute). Boomkantone wie Zürich, Waadt oder Genf gewinnen auch im wachstumsskeptischen Szenario noch bis zu 17 Prozent an ständiger Bevölkerung hinzu. So weit auseinander liegen unsere beiden «Schweizen»: dort die urbane, die floriert, hier die alpine, die stagniert.

Abbildung 1: Ständige Wohnbevölkerung des Kantons Glarus, 1850–2050
Quelle: Eigene Grafik mit Daten des Bundesamtes für Statistik

Diesem Unterschied liegen hauptsächlich kantonale Wirtschaftsstrukturen zugrunde. Schauen wir uns diese genauer an, wird klar, wie stark im Kanton Glarus die Industrialisierung nach wie vor verankert ist: Nur gerade der Kanton Jura hatte 2018 einen (minimal) höheren Anteil an Beschäftigten bzw. Arbeitsstätten im zweiten Sektor (Abbildung 2). Konsequenterweise brüstet sich das Branchenverzeichnis des Kantons Glarus mit dem Vorhandensein von sieben «landesweit, andere[n] sogar weltweit führend[en]» Firmen, davon sechs aus der industriellen Produktion: Kunststoff Schwanden (200 bis 500 Mitarbeitende), Swisspearl (ehemals Eternit, 2400 Mitarbeitende weltweit), Läderach (1700 Mitarbeitende weltweit), Netstal Maschinen (500 Mitarbeitende weltweit), Resilux Schweiz (50 bis 249 Mitarbeitende) und Kopter (150 Mitarbeitende).

Abbildung 2: Kantonale Industrialisierung und Finanzstärke, 2008–2024
Quelle: Eigene Grafik mit Daten des Bundesamtes für Statistik. Die Vertikale und Horizontale zeigen die Durchschnitte über alle Kantone hinweg an, die Diagonale stellt den linearen Zusammenhang zwischen den beiden Dimensionen dar.

Allerdings korreliert der Industrialisierungsgrad eines Kantons sehr stark negativ mit seiner Finanzkraft – will heissen: je industrialisierter, desto finanzschwacher. Ausgerechnet die historischen Vorreiter der Mechanisierung im Textil-, Maschinen- oder Uhrenbereich bilden das heutige Armenhaus der Schweiz AG – in Neusprech, der Switzerland Global Entreprise. «Arm» natürlich immer im Vergleich zu den reicheren Kantonen: Auch der Kanton mit dem tiefsten Bruttoinlandprodukt, Uri (2020: 54’000 Franken pro Kopf), ist immer noch wohlhabender als der reichste deutsche Flächenstaat (Bayern: 48’000 Euro).

Das Glarnerland ist also eng und klein, überdurchschnittlich fremdfinanziert und nach wie vor stark industriell geprägt. Auch ist der Kanton nicht übermässig populär, was die Binnenwanderung – also die innerschweizerischen Umzüge – angeht. So sind zwischen 2011 und 2022 insgesamt 12’410 Personen in einen anderen Kanton weg, aber bloss 12’025 von dort hinzugezogen. Nur gerade gegenüber den Kantonen Zürich (plus 181) und Schwyz (plus 391) resultiert ein leicht positiver Wanderungssaldo. Was tun?


Eine Strasse für die Zuwandernden, Bleibenden, oder Abwandernden?

Um sich aus der einerseits komfortablen, aber letzten Endes doch befremdlichen Position der finanziellen Abhängigkeit von Bund und anderen Kantonen zu befreien, setzen Kantone wie Glarus unter anderem auf die Mobilität. Dies etwa mit dem Bau von «E+E-Strassen» zur Erschliessung und Entlastung, sprich einer besseren Anbindung gerade des südlichen Teils des Glarnerlands an die Arbeitsplätze der Grossagglomeration Zürich. Inmitten der idyllischen Voralpen wohnen und sein Geld an der Limmat verdienen, wer würde das nicht wollen? Tiefe Steuern, hoher Lohn und dazu noch über eine vom Bund finanzierte Schnellstrasse donnern – es scheint also doch möglich, den Fünfer und das Weggli zu haben.

Aber wäre eine neue Strasse letztendlich mehr Fluch als Segen? Fluch, weil eine gute Anbindung des Tals an die A3 das Wegziehen weniger schmerzhaft macht, denn wenn das Heimweh zu stark wird, ist man ja schnell wieder in den Bergen zum Wandern, Biken oder auf der Piste? Fluch auch, weil jede neue Strasse mehr Verkehr nach sich zieht, was wiederum die vermeintlich gewonnene Fahrtzeit zunichte macht und überdies die Natur ästhetisch verschandelt?

Und selbst wenn bei einer neuen Strasse die «Erschliessung» in jene Richtung funktioniert, in die sie gedacht war – also mehr dableibende oder zuziehende, gutverdienende Steuerzahler*innen zu gewinnen – könnte damit der ländliche Charakter des aufgewerteten Kantons zum Schlechten verändert werden: Denn mehr Leute bedeutet immer auch mehr Investitionen, mehr Wohnraum, mehr Schulen, mehr soziale, gesundheitliche und administrative Dienstleistungen, mehr Energieverbrauch, mehr kulturelle und sportliche Aktivität, aber auch mehr Lärm und Stress wegen schärferer Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen wie die all eben genannten.

Oder entsprächen solche Veränderungen eben gerade der gewünschten Belebung und Entwicklung des Kantons – von der Wüste in eine Oase? Von Menschen unterschiedlicher Herkunft belebter Wohnraum, mit lachenden Kindern gefüllte Schulen, mehr öffentlicher Verkehr, ein breiteres soziales, gesundheitliches und administratives Dienstleistungsangebot, mehr kulturelle, musikalische, religiöse, soziale und sportliche Aktivitäten?

Die Fragestellung ist alles andere als theoretisch. Denn im Jahr 2001 hatte die Landsgemeinde des Kantons Glarus über eine genau solche «Erschliessungs- und Entlastungsstrasse» (E+E) zu entscheiden. Nach vielen Interventionen und heftigen Diskussionen wies die Landsgemeinde das Geschäft zurück – wie sie es bereits 1993 und 1997 getan hatte, und obwohl der Bund zwei Drittel der Kosten von 453 Millionen beglichen hätte. 2020 übernahm dann allerdings die Eidgenossenschaft gleich die ganze Verantwortung für die Anbindung des Hauptorts Glarus an die A3 (Basel–Sargans via Zürich); ausgerechnet Glarus Süd, also diejenige Gemeinde, die es am nötigsten hätte, bleibt dadurch jedoch aussen vor. Ironischerweise waren 2001 genau jene Kreise gegen die E+E-Strasse, die politisch wohl am meisten von einer starken Zuwanderung profitiert hätten, nämlich Links-Grün, währenddem die Strassenbefürworter*innen aus Mitte-Rechts am meisten zu (für sie ungewollten) Veränderungen beigetragen hätten.


Standortförderung wohin?

Leider lässt auch die aktuelle kantonale «Strategie Standortförderung 2023+» Visionäres ausser Acht, auch wenn die Diagnose grundsätzlich stimmt: So werden als die beiden wichtigsten Merkmale des Kantons die Nähe zum Metropolitanraum Zürich und der starke Industriesektor erwähnt, wobei auch der Begriff des «Klumpenrisikos» fällt. Ebenso werden Tendenzen hin zu einem «Wohnkanton» aufgezeigt, da zum einen die Zunahme der Bevölkerung die Zunahme der Arbeitsplätze übersteigt und zum anderen vermehrt Wegpendler*innen in Glarus Nord vertreten sind sowie Glarus Süd stärker von der Überalterung betroffen ist.

Jedoch werden erstens Zielkonflikte zwischen wirtschaftlichem Wachstum und touristischer Attraktivität ignoriert: Wer will schon durch mit Fabrikhallen zugebaute Wiesen flanieren oder auf dem Mountainbike von Lastwagen überrollt werden? Zweitens wird der starke Fokus auf «die Industrie» nicht hinterfragt. Und drittens werden keinerlei Massnahmen gegen den konstatierten Brain-Drain vorgeschlagen – nur bedauert wird, dass «auf absehbare Zeit […] kein Fachhochschulstandort in Glarus in Sicht» ist. Immerhin wird ins Ultrahochbreitband-Netz investiert, um irgendwann (auch) ein Homeoffice-Kanton zu sein.


Sprint in die Pendlernation

Interessanterweise bezogen sich zwei der erfolgreichsten Innovationen der letzten Zeit auf die Schiene. 2004 startete der Glarner Sprinter mit einer direkten Zugverbindung von Schwanden via Glarus und Ziegelbrücke an den Zürcher Hauptbahnhof. Diese seit 2014 als S25 geführte Verbindung lässt den nördlichen Teil des Glarnerlands endgültig in der Pendlernation Schweiz respektive der Zürcher Agglomeration aufgehen.

Die zweite Innovation war die Ferien-Aktion «öV-Anreise geschenkt», die auch den SBB pionierhaft erschien. Zugfahren nutzt die bestehende Infrastruktur, ist CO2-neutral, zuverlässiger und auch noch leiser als der motorisierte Strassenverkehr. Der eben wiedergewählte Glarner Ständerat Mathias Zopfi wünscht sich nicht zuletzt deswegen einen «Töditunnel» zwischen Linthal und Trun GR – der Bundesrat wäre für eine vertiefte Studie durchaus zu haben, vorausgesetzt, «die betroffenen Kantone [machen] einen Bedarf für eine Verbindung geltend».

Als eine der Begründungen für seinen Vorstoss führt Zopfi eine dannzumal «massive Fahrtverkürzung aus der Ostschweiz und dem Raum Zürich in viele Tourismusgebiete» an. Dies zeigt einmal mehr die ambivalente Stellung des Glarnerlands (und vieler anderer peripherer Gebiete): wirtschaftlich und mobilitätstechnisch nach Norden und vor allem gegen die Stadt Zürich und ihren Flughafen hin ausgerichtet, geografisch, ideologisch und politisch aber doch der ländlich-alpinen Ostschweiz zugehörig. Desgleichen für die Mitgliedschaft von Glarus in der schillernden Greater Zurich Area, der regionalen Wirtschaftsförderung mit Standorten in den USA, China und Südkorea, bei gleichzeitigem Mittun in der urchigen Ostschweizer Regierungskonferenz sowie jener der Gebirgskantone, zwei regionalen Zusammenschlüssen mit primärem Fokus Bundesbern.

Und so stellt sich abschliessend die Frage an jene andere, die boomende und wachsende Schweiz: Sind wir nicht alle Glarus? Irgendwie in einem grösseren Rahmen (Europa) aufgehoben, aber doch sehr stark mit uns selber beschäftigt? Den Bergen, dem Wasser, den Wäldern verbunden, ohne aber modernem Komfort und ultraschnellen, digitalen Zugänglichkeiten abschwören zu wollen? Stadt und Land, Wüste und Oase zugleich?