BIODIVERS POSTINDUSTRIELL

Mit beinahe vierzig Kleinwasserkraftwerken zwischen Linthal beziehungsweise Elm und Ziegelbrücke bildet sich im Kanton Glarus eine einmalige und historisch gewachsene Energielandschaft, die bis in die Textilindustrie des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Damals suchte die Kolonialware Baumwolle noch den Ort der günstigsten Energiequelle auf. Denn hier konnte man die Linth einfach kanalisieren und abzweigen und so schon bald einmal in Elektrizität umwandeln, um die Spinnereien und Webereien anzutreiben. Das Kraftwerk auf dem Legler Areal war typisch dafür. Fast das gesamte Wasser der Linth wird über ein Gefälle von elf Metern turbiniert und produziert eine Jahresenergiemenge von rund fünf Gigawattstunden. Eine vergleichbare Energiequelle in Linthal wird für die «neue Ware» des 21. Jahrhunderts genutzt: für die Datenspeicherung. Angepriesen wird die fast CO2-freie Dienstleistung an der «Linth als Lebensader», «in den Alpen der Schweiz» als «sicherste[n] Ort der Schweiz».

Doch in welchem Verhältnis steht die Stromerzeugung dieser historisch gewachsenen Energielandschaft, so erneuerbar sie auch sein mag, zu anderen Kraftwerken und zu weiteren Faktoren, insbesondere zur Biodiversität der Gewässer? Auffallend grösser ist die produzierte Energiemenge, die Kleinkraftwerke mit dem Wasser der Bäche aus den umliegenden Tälern und Tobel einspeisen – so etwa das im Jahre 1941 gebaute Kraftwerk Luchsingen, das verglichen mit dem Kraftwerk Legler & Co. AG nur einen Bruchteil dessen Wassers benötigt und gleichzeitig rund viermal mehr Energie produziert.

Kleinwasserkraftwerke

Wander- und Kletterwege führen im Glarnerland immer wieder über abgebrochene Kalkstufen, über sogenannte «Tritte» der Sardona-Tektonik – so zum Beispiel über den berühmten Bärentritt ob Braunwald Richtung Ortstock. Oder dann über Tritt, Geisstritt und Chalchtrittli von Linthal hoch zum Muttsee. Am eigenen Körper erfährt man den direkten physikalischen Zusammenhang zwischen Gefälle und Energieverbrauch, wenn es hochgeht, und Energieproduktion, wenn die Wassermassen herunterstürzen.

Spätestens wenn man verschwitzt auf der Muttseehütte ankommt, beginnt man die Dimensionen des Pumpspeicherwerks Limmern zu erahnen, das nicht nur den Höhenunterschied von insgesamt 1600 Metern, sondern das ganze Wassereinzugsgebiet vom Panixer- bis zum Klausenpass nutzt. Und nicht nur das. Zu einem Zeitpunkt, als man vor noch nicht zehn Jahren die Wasserkraftwerke schweizweit verscherbeln wollte, hatte man im Glarnerland einen guten Riecher im Wissen darum, dass in Zukunft nicht nur Wasser-, sondern auch Solar- und Windkraft unsere Elektrizitätsversorgung bestimmen werden. Man entwickelte eine Vision, um die wetterabhängigen Produktionsschwankungen aufzufangen und das Versorgungsnetz bis nach Süddeutschland zu stabilisieren.

Dank einem direkten Anschluss an die oberste Netzstufe konnte das Pumpspeicherwerk zwischen Muttsee und Limmernsee auf eine Maximalleistung ausgebaut werden. Bei zu viel Stromeinspeisung durch Photovoltaik oder Windkraft kann Wasser vom Limmernsee hochgepumpt werden. Bei Unterdeckung oder bei grosser Nachfrage nutzt man die Pumpen als Turbinen. So leistet der obere «Tritt» des Kraftwerkkomplexes ein Mehrfaches des bereits früheren Pumpspeicherwerks zwischen Limmernsee und Tierfehd und übernimmt weitgehend die Funktion einer Batterie über Mittag, über Nacht oder – je nach Kapazität – sogar über ein paar Tage, aber nicht über Wochen und Monate, um die Winterlücke zu schliessen. So bildet selbst das Pumpspeicherwerk Limmern einen wichtigen Puzzlestein in der nationalen Energiewende, die sich aus dem Ausstieg aus der Kernkraft und den Anforderungen des Pariser Klimaabkommens ergibt.

Netzebenen und Winterlücke

Zur vollständigen Dekarbonisierung – dem Umstieg von fossilen Brennstoffen auf kohlenstofffreie und erneuerbare Energiequellen – unseres Energiemixes ist die Elektrifizierung von Gebäuden, Mobilität und Industrie entscheidend. Gehen wir von einem relativ hohen Autarkiegrad der Schweiz aus, der aus unterschiedlichen Gründen gefährdet ist, so ist es äusserst sinnvoll, die Winterstromlücke im Blick zu behalten. Die Gesamtenergiemenge nimmt zwar ab, weil Elektromobilität und Wärmepumpen um ein Vielfaches effizienter sind als fossile Motoren. Sie wird aber zu gross, wenn wir Energielandschaften nicht neu denken, die den Ersatz der fossilen Energieträger voll einpreisen. Nur schon aus purem Eigeninteresse wird die Schweiz ihren nationalen Beitrag zur Einhaltung der planetaren Grenzen der globalen Erwärmung und der Ozeanversauerung zu leisten haben. Darum müssen die neuen Erneuerbaren neben der Wasserkraft gezielt auf das Winterhalbjahr ausgerichtet werden. Zwei zentrale Mosaiksteine bilden die Windkraft an exponierten Kamm- oder Passlagen und die hochalpine Photovoltaik.

Europas Batterie

Europas Batterie: Das Schweizer Stromnetz ist eingebunden ins kontinentaleuropäische Netz, das von der Ukraine bis nach Portugal reicht. Doch noch immer fehlt ein Schweizer Stromabkommen mit der EU, sodass die Schweiz damit rechnen muss, dass sie für den Handel zwischen den EU-Ländern 70 Prozent des Stroms auf der obersten Netzebene zur Verfügung stellen muss. Die Schweiz figuriert somit als abkommensfreie «Batterie» für die umliegenden Länder. (https://www.swissgrid.ch/de/home/newsroom/blog/2022/die-siebzig-prozent-regel.html) Werden aber Transitrouten für den Stromhandel zwischen Deutschland und Italien, aber auch mit Frankreich um die Schweiz herum gebaut, wird diese vom lukrativen Winterstromgeschäft abgekoppelt. Hier die richtige Balance zwischen unmöglicher Autarkie und Marktbeteiligung zu finden, ist eine schwierige Aufgabe und könnte massiv ins Geld gehen, solange kein Vertrag vorliegt.

So erreichen wir nach den drei «Tritten» endlich die Staumauer am Muttsee, die bereits mit Photovoltaikpanels bestückt ist – leicht schräg, im idealen Winkel auf die Wintersonne ausgerichtet. In Verbindung mit der Schneereflexion und mit der kalten, klaren Luft ist ihre Effizienz maximal und im Winter um ein Mehrfaches grösser als im Mittelland, wo die Elektrizität dringend gebraucht wird. Ein steifer Wind zieht über den Grat. So spüren wir am eigenen Leib, wie hier die Energielandschaft einer dekarbonisierten Schweiz im Herzen der Alpen nach einer Vervollständigung ruft.

Noch fehlen die Windräder – wie sie am Gotthardpass oder auf dem Gütsch zu finden sind. Noch kann die bereits gemachte Erfahrung zur Erweiterung der hochalpinen Photovoltaik in Anschlag gebracht werden. So übernimmt das Gesamtkraftwerk Limmern nicht nur die Rolle der Netzstabilisierung und er kurzfristigen Energiespeicherung, sondern auch der Winterstromproduktion. Denn bis jetzt handelt es sich um ein Nullsummenspiel: Auch wenn Pumpspeicherwerke als Batterien sehr effizient sind, so entspricht der Energieverlust, der durch die Energiedifferenz zwischen benötigter Pumpenergie und produzierter Turbinenenergie im gesamten Komplex ungefähr der Energiemenge, die durch das zusätzlich gesammelte und turbinierte Wasser entsteht.

So sehr man das Lokale und historisch Gewachsene zu schätzen weiss: Die Glarner Kleinwasserkraftwerke produzieren ihre Elektrizität mehrheitlich im Sommerhalbjahr. Damit entlasten sie zwar im Lokalen den Energieverbrauch und leisten einen Beitrag zur Stabilisierung des Netzes durch ihre Stetigkeit. Doch ihr nationaler Beitrag ist zu vernachlässigen.

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit erhielt die Gesamtanlage des Pumpspeicherwerks Limmern-Muttsee ohne Einsprache die Bewilligung, weil in einem Bonus-Malus-System die Interessen von Naturschutzverbänden und Nutzer*innen gleichwohl berücksichtigt werden konnten. Dazu gehörte auch die Bedingung, dass bestimmte Wasserfälle über der Tierfehd während mehrerer Wochen im Sommer nicht gefasst werden sollen und die Axpo Fischtreppen bei den Kleinkraftwerken zu finanzieren hatte.

Gewässerökologie

Zu regenerierende Gewässerökologie: Am gefährdetsten in der Schweiz sind die Ökosysteme, Pflanzen- und Tierarten an und in Gewässern, insbesondere Fluss- und Bachläufe sowie Auen- und Sumpflandschaften. (Delarze, Gonseth et al., 2015) In der Schweiz sind 90 Prozent der Auengebiete an freien, fliessenden Gewässern verschwunden. Und selbst die geschützten Auengebiete stehen heute unter Druck. (BAFU, 2020) Zudem sind Wasserpflanzen am gefährdetsten, während zwei Drittel der Fische und noch mehr Amphibien und Wasserkäfer gefährdet oder bereits ausgestorben sind. Ein zentraler Faktor ist dabei die Wasserkraftnutzung. (BAFU, 2022)

Der Beitrag von Wind- und hochalpinem Solarstrom im Winter ist überlebenswichtig. Dies im Unterschied zur Sommerproduktion aus Wasserkraft, die die Photovoltaikanlagen im Mittelland und die Infrastruktur im Tal ersetzen, sodass die Linth weiter renaturiert werden kann. Schweizweit würde lediglich ein Prozent der Alpwirtschaftsfläche für Photovoltaik benötigt. Die Gegend um die Muttseehütte, ideal ans Netz angeschlossen, leistet einen wichtigen und sinnvollen Beitrag dazu. Und so bewirbt der Glarnerland Tourismus seine urbane Klientel nicht nur mit unberührten Wanderlandschaften und blauen Stauseen, sondern auch mit neuen, höchst biodiversen Auenlandschaften im Tal und mit ihrer eigenen Energielandschaft über dem Nebel – einer Energielandschaft, welche die Alpen vor einer weiteren fatalen Erwärmung schützt.

Biodiversität

Die Biodiversität steht ebenso wie das Klima unter heftigem Druck. Die Forschung ist sich unsicher, ob wir auch hier (wie wahrscheinlich auch beim Klima) bereits Kipppunkte erreicht haben – wobei inzwischen die Klimaerwärmung zum wichtigsten Faktor für den Lebensraumverlust und für das Artensterben geworden ist. Die international koordinierte Aufarbeitung und die daraus abgeleiteten Empfehlungen erfolgen über das IPBES, das Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services – vergleichbar mit dem IPCC für die Globale Erwärmung. (https://www.ipbes.net/)

Energielandschaften sind kulturelle Produkte, die im Vorlauf zu den neuen Energieformen ihre eigenen Diskurse ausbilden. So wie die Seen der Wasserkraft noch an romantische Gemälde erinnern, so werden sich Wind und Sonne nicht nur mit Alpwirtschaft und Tourismus verbinden, sondern auch Sinnbild für eine neue, dekarbonisierte Welt sein.

Planetare Grenzen

Planetare Grenzen: Für das Überleben nicht nur von Fauna und Flora auf dieser Erde, sondern auch für den Menschen selbst ist die Sicherung der Lebensgrundlagen notwendig. Dafür ist die Einhaltung der planetaren Grenzen unabdingbar. Dazu gehört nicht nur die Klimaerwärmung mit dem Ziel der Reduktion der Klimagaskonzentration auf 350 ppm CO2, sondern auch die Versauerung der Ozeane, die damit in direkter Korrelation stehen. Ebenso sind die Süsswassernutzung, der Ozonverlust in der Stratosphäre, die Reduktion von Wald-, Wies- und Moorflächen und vor allem der Verlust von Biodiversität Teil davon. Das Konzept wurde 2009 das erste Mal in einem viel beachteten Artikel präsentiert und wird laufend überarbeitet und an die neuesten systemwissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst. Den besten Überblick erhält man auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Planetare_Grenzen

So bleibt Glarus auch im 21. Jahrhundert auf der Höhe der Zeit. Wenn in der Nachfolge von Albrecht von Haller die alpine Landschaft bis heute mehrheitlich unter dem Aspekt der Idylle wahrgenommen wird, dann haben weder Biodiversität noch Klimaschutz gewonnen. Wenn wir aber anerkennen, dass Landschaft immer schon ein Produkt ist, das nicht einfach «natürlich» und «wild» ist, sondern von uns immer auf irgendeine Weise beansprucht wird und wir unsere Spuren immer sichtbar hinterlassen, müssen wir sie bewusst mitgestalten zugunsten der planetaren Grenzen. Wir kommen nicht mehr darum herum, diese ernsthaft zu beachten, weil es schlicht und ergreifend überlebenswichtig ist.

Wenn Erholungssuchende aus Zürich im Kanton Glarus auf eine neue Kulturlandschaft treffen werden, welche effizienter und zugleich biodiverser ist, wissen sie: Hier wird unser Energiebedarf wirklich nachhaltig gedeckt. Und in Zukunft wird man dieses Zeugnis der Energiewende als Paradigmenwechsel von einem unbedachten hin zu einem bewussten Anthropozän zu deuten wissen.

Schweizer Wasserkraft

Aufgrund billiger Kohlenkraft und der aufkommenden neuen Erneuerbaren, insbesondere Windkraft, schien die Schweizer Wasserkraft im internationalen Vergleich in den 2010er-Jahren nicht mehr zu rentieren, sodass die grossen, ebenso international tätigen Energieversorger wie Axpo, Alpiq, Repower oder BKW beabsichtigten, Wasserkraftwerke abzustossen. Dagegen erhob sich aus patriotischen und etatistischen Überlegungen heraus seitens der SVP und SP Widerstand – exemplarisch dazu ein NZZ-Bericht aus dem Jahre 2016. (https://www.nzz.ch/zuerich/axpo-svp-und-sp-zuerich-stellen-wasserkraft-unter-heimatschutz-ld.1652712?reduced=true)

Pumpspeicherwerke

Pumpspeicherwerke: Inzwischen hat sich das Blatt gewendet und die Wasserkraft ist höchst rentabel geworden. Dabei spielen Pumpspeicherwerke eine zentrale Rolle – weniger für die Energieproduktion selbst als vielmehr für den Tageszeitenausgleich. Das Pumpspeicherwerk Limmern spielt dabei eine zentrale Rolle. (https://www.axpo.com/ch/de/ueber-uns/energiewissen.detail.html/energiewissen/pumpspeicherwerk-limmern.html) Drei weitere vergleichbare «Batterien» für die Schweiz und das nahe Ausland würden genügen, um Spitzen aus den neuen Erneuerbaren nach der Energiewende abzufangen, so das Pumpspeicherwerk Nant de Drance im Unterwallis mit einer Leistung von 900 Megawatt, die Grimselkraftwerke mit einer gegenwärtigen Pumpleistung von rund 600 Megawatt, welche noch weiter ausgebaut werden soll, sowie das geplante Pumpspeicherwerk zwischen dem Lago Bianco beim Berninapass und dem Lago di Poschiavo. Dort ist eine mit der Limmern vergleichbare Leistung von 1000 Megawatt geplant. (https://www.repower.com/gruppe/%C3%BCber-uns/unsere-anlagen/projekte/pumpspeicherwerk-lagobianco/)

Literatur:

Delarze, Raymond, Gonseth, Yves et al. (2015). Lebensräume der Schweiz. Ökologie – Gefährdung – Kennarten. (3. Aufl.). Ott Verlag.

BAFU (2022) (Hrsg.). Gewässer in der Schweiz, Zustand und Massnahmen. https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/wasser/publikationen-studien/publikationen-wasser/gewaesserbericht.html.